Politischer Frühschoppen in Westen startete gleich mit hochkarätigem Gast: Sven Giegold referierte zu einem Jahr im Amt als Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Spannende 2,5 Stunden erlebten ca. sechzig Interessierte im Gasthaus zur Mühle in Westen.
Eingeladen hatte der Verdener Kreisvorstand und die Kreistagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Wie sieht die Arbeit eines Staatssekretärs im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aus?
Sven Giegold beschrieb sehr kurzweilig seinen Weg vom Mitbegründer von Attack, als langjähriger Parlamentarier der Europäischen Union im Ausschuss für Wirtschaft und Währung bis hin zu seinem Angebot von Robert Habeck (Bundesminister für Wirtschaft-und Klimaschutz) in dessen Regierungsteam zu wechseln. Bereits beteiligt am Wahlprogramm und den Koalitionsverhandlungen wird Giegold bald klar: Robert Habeck wird nicht wie ursprünglich geplant Finanzminister, sondern nimmt sein Team ins Wirtschafts- und Klimaschutzministerium mit. Die FDP bestand auf das Finanzressort, die Androhung ansonsten das Wirtschafts- und Klimaschutzministerium zu übernehmen, war aus GRÜNEN Sicht undenkbar. Von da an ist Giegold einer der vier Staatssekretäre im Wirtschaftsministerium, die ganz erheblich an den Regierungsentscheidungen mitwirken.
„Wir befinden uns in krisenhaften Zeiten. Nach einem Jahr Ampel-Regierung fühle ich mich verpflichtet den Menschen meines Umfeldes gegenüber Rechenschaft abzulegen.“
und weiter „Als Beteiligter der Regierung gibt es aber auch Grenzen der Offenheit für mich“, so Giegold.
Seine Aufgaben umfassen neben der Leitung der Grundsatzabteilung– hier geht es um grundlegende Fragen der Marktwirtschaft – aber auch vor allem der Transformation der Wirtschaft in eine sozialökologische Marktwirtschaft. „Wirtschaftliches Wachstum dürfe nicht mehr nur an Zahlen gemessen, sondern müsse auch mit sozial-ökologischen Kriterien bewertet werden,“ betont Giegold. In Giegolds Verantwortung liegt auch das Vergaberecht sowie die Regionalförderung in Strukturschwachen Regionen und die Reform der regionalen Wirtschaftskreisläufe unter Hinzuziehung von Konjunkturprognosen.
Ebenso gehöre die Rüstungsexportkontrolle zum Energieministerium. „Eine ethisch schwierige Aufgabe,“ so Giegold. Zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hebt er das Recht auf Selbstverteidigung eines Landes im Angriffsfall hervor und stellt die Risiken für alle in Europa dar: Putin hat das Ziel angekündigt und handelt danach alte Grenzverläufe wiederherzustellen. „Wir sitzen auf einem Pulverfass, wenn wir zulassen, dass wieder Grenzen mit Waffengewalt in Europa verschoben werden können.“ Weitere ethische Gewissensfragen bewegen Giegold: „Leider gibt es auch noch alte Verträge aus Helmut Kohls Regierungszeiten an die Deutschland z.B. gegenüber Saudi-Arabien gebunden sei und deshalb Rüstungsgüter liefern müsse, von denen wir wissen, dass sie im Jemenkrieg eingesetzt wurden.“
Weitere seiner Aufgaben seien die Stärkung von kleinen und mittleren Unternehmen und der Bürokratieabbau. Letzterer erwies sich als schwieriger als geahnt. Das Streichen von irrelevanten Paragraphen sei einfach, führe aber zu keiner spürbaren Entlastung. Nicht die Vielzahl sondern die Nervgrenze der bürokratischen Auflagen seien für viele Unternehmen der entscheidende Punkt. So im Fall eines Mittelständlers im Publikum, der sich entschloss auf Grund des hohen Verwaltungsaufwandes dieses Jahr nicht mehr auszubilden.
Eine besondere Aufgabe ist für Sven Giegold nach wie vor ‚Europa‘ samt der europäischen Klimapolitik: Insbesondere die Herausforderung, die Energiekrise und den Wegfall der russischen Gaslieferungen auszugleichen, ohne die wichtigen Klimaziele für Deutschland und vor allem Europa aus den Augen zu verlieren. So sei es immerhin gelungen, den Anstieg des C02-Ausstoßes zu mindestens zum Stagnieren zu bringen und die Geschwindigkeit der CO2-Minderung in der EU zu verdoppeln. Sein angestrebtes Lieblingsgesetz sei das Gesetz zum Recyceln der Batterien in E-Autos.
Besonders wichtig war Giegold das Thema die Erneuerbaren Energien mit mehr Geschwindigkeit zu installieren. Alle Anreize für mehr Investitionen in Solaranlagen und Gesetze zur Ausschreibung von Windrädern an Land seien nicht erfolgreich, wenn Städte und Kommunen weiterhin viel zu häufig Blockadepolitik beitreiben. „Kaum wird ein Schwarzstorchpaar gesichtet, ist die Überlegung hier kein Windrad zu bauen. Jeder einzelne Vogel wird betrachtet, dabei geht der Klimaschutz um die Sicherung gesamter Populationen. Es geht ums große Ganze: Die Folgen, die wir global wegen des Klimawandels erfahren würden, wenn wir jetzt nicht handeln: Das Verschwinden der Regenwälder, das Aussterben der Korallenriffe etc..“
Die aus den letzten Jahrzehnten politisch geerbte Abhängigkeit von wenigen Energielieferanten ließe sich in Deutschland im Moment nur mit unliebsamen Maßnahmen und vielen Kompromissen ändern.
Bekannte Stichworte: LNG-Terminals, Streckung der Laufzeiten für drei Atomkraftwerke,
Braunkohleabbau. Klar sei: „Ohne ausreichende Energie gibt es keine stabile Wirtschaft und dann wird es auch keine Umsetzung der Klimaziele und Transformation zu klimaneutraler Produktion geben.“ bekräftigt Giegold.
Eine Frage aus dem Publikum, die wohl viele beschäftigt: „Warum sind wir immer noch nicht beim Tempolimit von 120 km/h auf der Autobahn angekommen?“ kann Giegold plausibel erklären: Das Freiheitssymbol des uneingeschränkten Tempolimits sei der FDP in den Koalitionsverhandlungen so wichtig gewesen, dass sie ohne diese Zustimmung zu allen weiteren Maßnahmen um das 1,5 Grad Ziel noch zu erreichen, nicht zugestimmt hätte. Damit musste sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein weiteres Mal erpressen lassen, um die größeren auf europäischer Ebene angestrebten Klimaziele verhandeln zu können. Zur Frage warum Inlands- und Urlaubsflüge nicht mit einer höheren Kerosinsteuer belegt würden, antwortete Giegold, dass sich durch die gesteigerte Nachfrage der Preis für den Emissionshandel erhöhe und es damit auch eine indirekte Erhöhung der Kerosinsteuer gebe. Eine einseitige Erhöhung der Kerosinsteuer sei auf europäischer Ebene in Abstimmung sehr schwierig. Die Zukunft müsse der höhere Anteil an nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energien als Triebmittel statt Kerosin sein.
Ausführlich ging Giegold auf Fragen der Entbürokratisierung für kleinere und mittlere Unternehmen ein und bat darum konkrete bürokratische Hürden an ihn heranzutragen. Auch die Notwendigkeit nicht nur dem Fachkräfte- sondern auch dem Arbeitskräftemangel durch Anreize und freundliche Aufnahme in unserem Land zu begegnen, sei Giegold ein Anliegen. Fach- und Arbeitskräfte aus anderen Ländern würden im europäischen Ausland aber auch in den USA viel mehr wertgeschätzt und wenden sich von Deutschland wieder ab. Das Zuwanderungsgesetz sei thematisch im Bundestag angelangt, es gebe aber immer noch Menschen in Deutschland, die nicht verstünden, wie wichtig Arbeits- und Fachkräftezuwanderung insbesondere vor dem Hintergrund unseres demographischen Wandels seien. Der Frage warum gut integrierte Menschen, die hier z.b. eine Schul- und Berufsausbildung bekommen haben, wieder abgeschoben würden, begegnete Giegold mit dem selben Unverständnis sowohl aus Sicht der wirtschaftlichen Aspekte, als auch aus Sicht der Menschlichkeit. Wenn wir ein Einwanderungsland seien wollen und Fachkräfte holen, können wir nicht nur die Vorteile genießen, wir müssen auch die Problematiken akzeptieren.
Dabei wies er ausdrücklich darauf hin, dass sich schon viel, sehr viel getan habe was die Integration und Selbstverständlichkeit von jungen Menschen mit Migrationshintergrund in Schul- und Ausbildungssystemen im Vergleich zu seiner eigenen Schulzeit gebe. Der offene Wandel in der Gesellschaft sei da. Wir sollten nur mal mehr die positiven Entwicklungen sehen und nicht nur die Negativen herausstellen.
Sein Schluss-Plädoyer endete dann auch mit dem Aufruf: „Let´s do it“!
Moderator Lennart Quiring und Mitorganisator Ehler Lohmann bedankten sich bei Sven Giegold für die lebendige Diskussion mit einem Glas Honig aus Westen.
Das Publikum war sich bei einer heißen Suppe einig:
Ein tolles Format – bis zum nächsten Politischen Frühschoppen und gerne in ein, zwei Jahren auch wieder mit Sven Giegold!