Ich war zum ersten Mal auf einer Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90 / die Grünen, oder überhaupt auf einem politischen Parteitag. Es waren aufregende und anregende Tage, und eine durchweg positive Erfahrung. Ich möchte empfehlen, jede Chance zu nutzen, auf eine Delegiertenkonferenz zu fahren, oder auch sich vor Ort in demokratischen Prozessen einzubringen. Man investiert etwas Zeit, und gewinnt Mitspracherecht, interessante Erfahrungen und Gespräche, und nicht zuletzt macht es Spaß.
Ein Bericht von Dr. Anke Schulz.
Auf der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) in Bonn vom 14. bis 16.10.2022 war der Kreisverband Verden von Bündnis 90 / Die Grünen mit der Hauptdelegierten Dr. Bettina Schwing und einer Ersatzdelegierten, Dr. Anke Schulz, vertreten. Insgesamt waren 817 Delegierte aus ganz Deutschland vor Ort, dazu kamen noch die Ministerinnen und Minister, der Bundesvorstand, all die Helferinnen und Helfer, und die Vertreterinnen der Presse. Das Word Conference Center im Bonner Regierungsviertel war gerade so groß genug. Der KV Verden hatte einen Sitzplatz und eine Stimmkarte, die Haupt- und Ersatzdelegierte haben sich abgewechselt. Die große Vielfalt der Delegierten war beeindruckend, es waren alle Bevölkerungsschichten vertreten, die sich für demokratische Prozesse interessieren, die Halle bot ein buntes Bild.
Es war spannend, zu beobachten, wie die Gebärdendolmetscherinnen arbeiteten, wie die Vertreterinnen der Fernsehsender, aber auch die Sprecherinnen und Sprecher der Grünen, professionell geschminkt wurden, wie die Personen aus dem Bundesvorstand die Liste der Sprecherinnen und deren Redezeit überwachten und überwiegend erfolgreich für Rededisziplin sorgten.
Die Tage waren lang, am Freitag wurde von 16 bis 22.15 Uhr getagt, am Samstag von 11 bis 21.45 Uhr, und am Sonntag von 9.30 bis 15.30 Uhr, also eineinhalb Stunden länger als geplant. Zum Glück hatten wir Verdener Delegierte ein Hotel, das in 10 Minuten zu Fuß zu erreichen war, einmal an der Rheinpromenade entlang.
Auf der BDK gab es einige Formalia abzustimmen, wie man sie auch aus Mitgliederversammlungen von Vereinen kennt, etwa den Haushaltsabschluss 2021, Satzungsänderungen und Wahlen für Ämter. Unter ‚Verschiedenes‘ wurden am Samstag zehn Anträge abgestimmt, die im Vorfeld von den Kreisverbänden gestellt worden waren. Alle Mitglieder der Grünen hatten ein Mitspracherecht, welche der unzähligen Anträge letztlich auf der BDK debattiert werden sollten. Darunter waren Themen wie zum Beispiel die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen oder der Schutz von Beschäftigten auch in kirchlichen Einrichtungen, Stichwort ‚Ein Arbeitsrecht für alle‘.
Das große Thema am Freitag hieß „In Zeiten fossiler Inflation: Sozialen Zusammenhalt sichern, Wirtschaft stärken“. Es ging unter anderem um die sichere Energieversorgung für den Winter. Sollten die letzten zwei Atomkraftwerke Neckarwestheim 2 und Isar 2, wie gesetzlich vereinbart, zum 31.12.22 oder erst zum 15.04.23 abgeschaltet werden? (Beim Atomkraftwerk Emsland wurde die Abschaltung zum 31.12.2022 nicht in Frage gestellt.) Die Mehrheit der Delegierten stimmte der vom Bundesvorstand vorgeschlagenen Verlängerung zu, ich hatte dagegen gestimmt.
Die Abstimmung über die Anträge, die von den Kreisverbänden oder auch vom Bundesvorstand gestellt worden waren, folgte immer einem Muster: Die Anträge waren auf der Webseite von „Antragsgrün“ einsehbar, jede konnte sie im Vorfeld durchlesen. Es waren aber zu viele, als dass jemand sie alle hätte lesen können. So gab es zuerst die Rede der Fürsprecherinnen des Antrags, in dem die Eckdaten kurz zusammengefasst wurden, und die Gründe, warum man dafür stimmen solle. Die Personen aus den Kreisverbänden, die ihre Anträge auf der großen Bühne vor mehr als 800 Menschen vorstellten, mussten sicher all ihren Mut zusammennehmen. Dann folgte die Gegenrede, die überwiegend von einer der Vertreterinnen des Bundesvorstands oder sogar von einer der anwesenden grünen Ministerinnen oder Ministern gehalten wurde. Hier wurden die Punkte vorgetragen, die für eine Ablehnung des Antrags sprachen. Danach folgte die Abstimmung, zuerst einfach per Zeichen mit den grünen Stimmkarten. Wenn es nicht eindeutig erkennbar war, ob der Antrag eine mehrheitliche Zustimmung erhalten hatte, wurde mit der Abstimmungs-App abgestimmt, was etwas länger dauerte, aber eindeutige Ergebnisse lieferte. Nach dem Abstimmungsmarathon am Samstag gab es für alle eine Party im Foyer des World Conference Centers, auf der ausgiebig getanzt wurde.
Am Sonntag stand das Kernthema der Grünen an: „Klimakrise als Menschheitsaufgabe für Klimaschutz, für Freiheit“. Für mich am spannendsten war Antrag K-06, in dem es um den weiteren Abbau von Kohle in Deutschland ging. Dieses Thema trieb auch die Demonstrantinnen um, die an allen drei Tagen vor der Halle aktiv waren. In dem Antrag des Bundesvorstandes hieß es „mit der kürzlich geschlossenen Vereinbarung wird für das Rheinische Braunkohlerevier der Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorgezogen – rechtssicher und entschädigungsfrei. […] Bitter ist, dass der Ausbau der Erneuerbaren nicht vorangetrieben und der Kohleausstieg 2030 im Rheinischen Revier nicht bereits in der letzten Legislatur geklärt wurde, um so noch rechtzeitig die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch Lützerath erhalten bleiben kann.“ Das Dorf Lützerath liegt zwischen Aachen und Düsseldorf und soll in Erweiterung des Tagesbaus Garzweiler vom Energieversorgungskonzern RWE abgerissen und die darunter befindliche Kohle abgebaggert werden. In einem Antrag wurde ein Moratorium für Lützerath gefordert, ein gesetzlich angeordneter Aufschub des Abbaus. Fürsprecherinnen für das Moratorium waren Timon Dzienus, Bundessprecher der Grünen Jugend und Luisa Neubauer, Aktivistin bei ‚Fridays for Future‘. In ihrer Rede sagte sie: „Wenn RWE die im Deal ermöglichte Auslastung aller Kraftwerke in den 2020er Jahren nutzt, dann wird durch den vorgezogenen Kohleausstieg 2030 keine einzige Tonne CO2 eingespart.“ Es würde der Abbau von 280 Millionen Tonnen mit grüner Zustimmung erlaubt, es dürften keine 50 Millionen Tonnen sein, um die 1,5 Grad Grenze nicht zu überschreiten. Es gab Gegenreden von prominenten Sprecherinnen: Steffi Lemke, grüne Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, und Cem Özdemir, grüner Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft. Die Gegenreden folgten dem Tenor, die Grünen haben schon so viel erreicht und werden noch viel mehr erreichen für den Klimaschutz. Wenn man Regierungsverantwortung und damit Verantwortung für die Menschen im Land trage, müssen man Kompromisse mit den anderen politischen Akteuren eingehen. Die folgende Abstimmung konnte nicht durch einfache Handzeichen eindeutig geklärt werden, die Abstimmung per App ergab eine Ablehnung des Antrags; die Kohle unter Lützerath darf von RWE abgebaut werden. Die Verdener Delegierte hatte für den Antrag gestimmt.